Kommt ein neuer Film des Argentiniers Gaspar Noé ins Kino, kann man sich sicher sein, dass bei dessen Beschreibung ein Wort inflationär gebraucht wird: „Skandal“. Mit Werken wie „Menschenfeind“ und „Irreversibel“ etablierte der 52-jährige Filmemacher um die Jahrtausendwende seinen Ruf als „Skandalregisseur“ und legte 2009 mit dem krassen „Enter the Void“ einen beinahe unerträglich hypnotisierenden Filmtrip nach. Mit „Love“ macht er seinem Ruf nun wieder alle Ehre.
Love macht man nun mal nackig
Das Thema des Films sollte wohl jedem klar sein: Es geht um die Liebe – mit all ihren Höhen und Tiefen, Lichtern und Schatten, Begierden und Abgründen. „Love“ beginnt mit einer Art Warnung: „Achtung, sie werden gleich ‚Liebe‘ sehen.“ – und schon in der ersten Einstellung sieht man ein nacktes Paar vollfrontal beim Petting. Immerhin: So weiß man schon nach wenigen Sekunden, in welche Richtung dieser Film gehen wird.
Wenn die Definition von „Porno“ lautet, dass man Close-ups von Geschlechtsteilen und erigierte Penisse sieht, dann hat „Love“ mit Sicherheit etwas Pornografisches. Da es hier allerdings nicht um die Zurschaustellung von Fleisch und pures Sportrammeln geht, tut man „Love“ mit Sicherheit Unrecht, wenn man ihn auf den Sex reduziert. Schließlich geht es um die hemmungslose, wilde Liebe zweier Menschen – und Liebe wird nun mal so gemacht: nackt und mit männlicher Erektion. Der eigentliche Skandal sollte doch wohl sein, dass in Hollywood alle nur mit BH vögeln und sich nach dem (abgeblendeten) nächtlichen Stelldichein morgens beschämt die Decke bis ans Kinn ziehen. Völlig widernatürlich.
Unglücklich in der Stadt der Love
Egal, es geht um „Love“. Und darum geht’s in „Love„: Der junge Amerikaner Murphy (Karl Glusman) erwacht am Neujahrstag neben seiner Freundin Omi (Klara Kristin), mit der er ein kleines Kind hat, in seiner Wohnung in Paris. Seinen Gedanken kann man entnehmen, dass er nicht sonderlich happy ist mit seiner Partnerin. Als er seine Mailbox checkt, hört er dort einen Anruf von der Mutter seiner Ex-Freundin Electra (Aomi Muyock), von der er sich vor zwei Jahren getrennt hat. Die Dame ist besorgt, da sie seit langem nichts von ihrer depressiven Tochter gehört hat und befürchtet, diese könnte sich etwas angetan haben.
In Rückblenden erzählt Noé nun die Geschichte von Murphy und Electra: Wie sie sich kennenlernten und ineinander verliebten, wie sie ihre Sexualität auslebten, wie sie ihre junge Nachbarin vernaschten, wie sie in Sexclubs neue Impulse suchten, wie sie sich schließlich immer mehr voneinander entfernten und letztlich tränenreich trennten. Die zahlreichen expliziten Sexszenen des Films sind dabei wie gesagt eigentlich nicht voyeuristisch und zurschaustellend (gut, es liegt letztlich immer alles im Auge des Betrachters). Vielmehr transportieren sie wunderbar die knisternde Leidenschaft in dieser Beziehung, die am Anfang wie die einzig wahre Liebe erscheint.
„Love“ ist fantastisch inszeniert
Die emotional aufwühlende Love Story verstärkt Noé mit fantastischen Bildkompositionen, Kamerafahrten und Farbgebungen, die zusammen ein faszinierendes Filmkaleidoskop formen. Man erkennt klar die Handschrift des Regisseurs, der zuvor schon in „Enter The Void“ eine irre Bilderflut auf den Zuschauer losgelassen hat. Ebenfalls genial: der intensive, hypnotische Score des Films, der das i-Tüpfelchen auf diesem cineastischen Gesamtkunstwerk ist.
Gaspar Noé über „Love“
„Seit Jahren habe ich davon geträumt, einen Film zu machen, dem es gelingt, voll und ganz die Leidenschaft eines verliebten jungen Paares abzubilden, mit all ihrer körperlichen und emotionalen Exzesse. Eine Art Amour fou, wie die Quintessenz des Lebens, das ich und meine Freunde geführt haben. Ein zeitgemäßes Melodrama mit vielen Liebesszenen, das die absolut lächerliche Regel brechen soll, die besagt, dass ein normaler Film keine übermäßig erotischen Szenen enthalten darf – obwohl es doch jeder liebt, Liebe zu machen. Ich will das zeigen, was sich das Kino in den seltensten Fällen traut, ob nun aus kommerziellen oder legalen Bedenken: Ich will die organische Dimension des Verliebtseins auf Film festhalten. An diesem Punkt lässt sich in den meisten Fällen die Essenz der gegenseitigen Anziehungskraft junger Liebender finden. Der Ausgangspunkt für mich war, intensive Leidenschaft auf natürliche Weise zu zeigen – animalisch, verspielt, lustvoll, traurig. Anders als bei meinen anderen Filmen sollte es hier um nichts anderes gehen als sentimentale Gewalt und die Ekstase der Liebe.“
Kombiniere: Wer einen unglaublich intensiven Liebesfilm sehen will, kein Problem mit Nacktheit hat (man sieht da ja jetzt auch keine ineinandergleitenden Geschlechtsteile in Nahaufnahme) und FSK18 darf, der sollte sich „Love“ dringend anschauen. Mich hat er jedenfalls echt beeindruckt.
„Love“ – der Trailer