Long Distance Calling liefern uns frei Haus das Album der Woche bei EMP. Mit „Boundless“ bauen die Münsteraner ihre Vormachtstellung aus und besinnen sich dabei noch kurzerhand auf ihre Wurzeln. Doch auch neue Klänge sind auf dem sechsten Album zu vernehmen. Eine hochemotionale Platte, welche wir hier vorfinden können.
Es gibt solche Geschichten, die man sich immer wieder ins Gedächtnis ruft. An das genaue Jahr kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, jedoch war es auf dem Wacken. Bassist Jan Hoffmann erzählte mir bei einem Bier, dass er in einer neuen Band spielen würde. Er damals noch beim Label Century Media angestellt, brach ein Gesetz, welches ungeschrieben über dem VIP-Bereich des Wacken hängt. Bist du auf dem Wacken, dann hast du mit Label-Angestellten gefälligst über Bands zu sprechen, die auf dem Label erscheinen. Sei es über zurückliegende Veröffentlichungen, oder eben über Bands, die in naher Zukunft noch von sich hören lassen werden. Wo mancher Promoter in stundenlangen Lobhuldigungen sich verirrt, andere die „ich gebe dir ein paar Bier aus“ oder wiederum andere den Job „Promotion“ zur „Ganzkörper-Promotion“ verkommen lassen, da stand Jan mit Basecap und schwärmte von Jungs, die sich im Proberaum ausleben würden.
Als Long Distance Calling noch keinen Namen hatten
Da stand er, der Bassist mit seiner Cap und der Sonnebrille. Erzählte von Visionen, die man umsetzen möchte. Und ich mit meiner Taktlosigkeit, der nur ein „mit was kann man es denn vergleichen?“ dem Kerl an den Kopf knallte. Jan überlegte lange, fand aber nicht die richtigen Worte. Klar, „instrumental“, „Post-Rock“ fielen, jedoch drifte er auch ab und erklärte, dass man „Emotionen hervorrufen“ möchte und „Sphären schaffen“. Der in Dortmund wohnende Mann hat ein profundes Wissen im Bezug auf Musik und das Schöne war damals, dass er losgelöst von Century Media-Veröffentlichungen über Bands sprechen konnte. Ein Umstand, welchen die wenigsten Label-Angestellten umsetzen können. Bei ihm anders und wenn man sich die Zeit nimmt – die wir an diesem Tage hatten – und mit ihm über bewegende Alben spricht, dann kommen Bands zum Vorschein, die sich sehr oft mit meiner Ansicht decken. Und genau hier sollten Long Distance Calling, welche damals noch keinen Namen hatten, ansetzen.
Der erste Juwel war „Satellite Bay“…
Es folgten Taten auf das damalige Gespräch. Long Distance Calling formierten sich und mit „Satellite Bay“ machte die Band klar, dass man nicht auf Phrasendreschen steht. Was seitens des Bassisten angekündigt hatte, manifestierte sich in einem Album, welches auch 11 Jahre nach der Veröffentlichung regelmässig seinen Weg in den Player findet. Es zeichnete sich damals schon ab, dass Long Distance Calling eine andere Herangehensweise hatten, was Musik betrifft. Eine Exzellenz war zu spüren, die seinesgleichen suchte. Von einer musikalischen Reise muss man sprechen und der Band zweifelsohne attestieren, dass sie Rockmusik durch ihr Dasein wieder erfrischen. Eine Tatsache, die sich bis zum heutigen Tage nicht geändert hat – egal, welche Phase der Band man nun genauer beleuchtet. Long Distance Calling erfinden sich letztendlich immer wieder selbst, was jedes Album zu einem Juwelen macht.
… der sechste lautet „Boundless“
Nun also „Boundless“. Das sechste Album in der Historie der Band. Long Distance Calling haben mit den letzten Alben Gefallen daran gefunden, einen Sänger in ihren Reihen zu haben. Per se eine Veränderung, die meinerseits auf Zuspruch traf, jedoch auch kritische Stimmen aufkamen. Mit „Boundless“ nun also der Schritt zurück. Ein „back to the roots“ oder eine Besinnung auf die wahren Stärken dieser Band. Ein Zugeständnis an den instrumentalen Post-Rock und das Ausleben der musikalischen Qualitäten des Quartetts. „Out There“ soll der Türöffner sein. Ein Bolid mit über 9 Minuten Spielzeit, der all das zum Ausdruck bringt, was zum Ausdruck gebracht werden muss. Sei es das Drumming von Janosch Rathmer, welches über jeden Zweifel erhaben ist. Oder das Gitarren-Gespann Jordan/Füntmann, welches sich ein regelrechtes Duell liefern. Und zum Trotz spielt sich Hoffmann am Bass an allen schlechten Bassisten-Witzen vorbei. Punktgenau, markant und erdig.
Long Distance Calling sind minimaler und präziser, als auf den zwei Vorgängern. Man hat sich Raum geschaffen, um Instrumente sprechen zu lassen und es scheint, dass technische (Studio-) Spielereien gemieden wurden. Ein Brückenschlag zu den jüngsten Werken? Jaein, denn das angeeignete Wissen und Können lassen Long Distance Calling hier sicherlich nicht außen vor. So werden die Emotionen seitens des Hörers geweckt und ein regelrechtes Wechselspiel der Gefühle setzt ein. Laut trifft auf leise, filigran auf dicke Soundwände, minimal auf Vollbesetzung. Und über all dem steht das große Ganze. Die Tatsache, dass Musik sehr wohl Kunst sein kann und hier auch ist.
„Malen nach Zahlen“ machen andere
Darüber hinaus zeichnet sich mit den 8 Songs ab, dass Long Distance Calling Gefallen an härteren Tönen haben. „Ascending“ ist nur ein Beweis für diese These, denn auch „In The Clouds“ frönt nach rund 2 Minuten der dicken Instrumentalisierung. Selbst der oft belächelte Wah-Wah-Effekt kommt stimmungsvoll zum Einsatz. „Like A River“ plätschert zuerst anmutig vor sich hin, bevor aus dem Bächlein ein wahrer Country-Fluss wird. Wohl die ungewöhnlichste Nummer auf dem Album, im Umkehrschluss aber der Beweis dafür, dass der musikalische Horizont dieser Band noch lange nicht ausgereizt ist. Und wer Bitteschön kam auf die Idee eine Violine einzusetzen? Alleine für diesen Umstand von meiner Seite eine tiefe Verneigung. Ein Klavier bei „On The Verge“, ein regelrechter Stilbruch bei „The Far Side“ und das Groove-Monster packt man kurzerhand bei „Weightless“ aus. Müsste man dieses Album in die Malerei übertragen, dann degradieren Long Distance Calling kurzerhand Weggefährten und ihre Alben zu „Malen nach Zahlen“. Kann man mögen, jedoch ist die hohe Kunst der Acryl-Malerei eben eine Klasse für sich. Und genau hier spielen Long Distance Calling!
Das Fazit? Aber gerne doch!
Was bleibt als Fazit? Dass die Band ein starkes Album abliefert, war klar. Alles andere wäre irritierend gewesen. Der jüngst eingesetzte Gesang wurde eliminiert, was aber keinesfalls ein Verlust darstellt. Eher das Gegenteil ist der Fall und dies trotz meiner Liebe für die Werke „The Flood Inside“ und „TRIPS“. „Boundless“ wird alte Fans wieder ins Boot holen, die sich irritiert gezeigt haben. „Boundless“ wird aber auch neu gewonnene Fans versöhnlich stimmen, denn dieses Album macht mit Experimentierfreudigkeit und dem Ausreizen sämtlicher Qualitäten so dermaßen Boden gut, dass ein Abwenden von diesem Album nur kopfschüttelnd beantwortet werden kann. Und darüber hinaus ist dieses Album wohl auch das härteste in der Diskografie der Band. Folglich auch für den gestandenen Rocker/Metal-Fan ein Hördurchgang wert. Trotz der Tatsache, dass das Jahr noch jung ist, meinerseits die Zusage, dass „Boundless“ unter den Top 5 für 2018 auftauchen wird.